Hamburg: In diesem Jahr werden tausende Windenergieanlagen in Deutschland ihre Auslegungsdauer von meist 20 Jahren erreichen und müssten stillgelegt werden. Oft lohnt sich jedoch ein Weiterbetrieb über die ursprünglich kalkulierte Laufzeit hinaus. Voraussetzung dafür ist ein Weiterbetriebsgutachten. Silvio Konrad, verantwortlicher Geschäftsführer für den Energiesektor im Geschäftsbereich Industrie Service bei TÜV NORD, appelliert an Besitzer von Altanlagen, das Gutachten rechtzeitig anzugehen, um einen unterbrechungsfreien und wirtschaftlichen Betrieb zu gewährleisten.
In Deutschland stehen aktuell mehr als 27.000 Windenergieanlagen. Viele davon wurden bereits vor dem Jahr 2000 erbaut. Eine Studie der Deutschen Windguard besagt, dass etwa 6.000 bis 8.000 Altanlagen bis spätestens 2020 ihr zwanzigstes Betriebsjahr erreichen werden. Gemäß ihrer Typenprüfung müssten diese Anlagen nach Ablauf der Betriebsdauer stillgelegt werden, doch ein Weiterbetrieb lohnt sich in den meisten Fällen: Die Anlagen sind abgeschrieben und meist noch gut erhalten. Der Betreiber ist mit der Technik, den Windverhältnissen und dem Servicepersonal vertraut. Ein weiterer Grund für den Weiterbetrieb kann sein, dass ein Repowering, also der Austausch gegen eine neuere Anlage am gleichen Standort, wegen Auflagen oder neuen Abstandsregelungen nicht möglich ist.
Eine Weiterbetriebsanalyse klärt darüber auf, ob die Altanlage technisch in einem so guten Zustand ist, dass sie sicher weiterlaufen kann. „Das Gutachten besteht dabei aus einem analytischen und einem praktischen Teil“, erläutert Silvio Konrad. „Wir bieten Betreibern ein Komplettpaket zur Prüfung des Weiterbetriebs nach der DIBt-Richtlinie sowie den Grundsätzen des Bundesverbands WindEnergie (BWE) an und begleiten das gesamte Verfahren.“
Analytischer und praktischer Teil kombiniert
Im ersten Teil der Prüfung muss ein unabhängiger Gutachter wie TÜV NORD unter anderem die Standsicherheit nachweisen. Wind- und Umgebungsbedingungen des Standorts sowie die Angaben des Herstellers bezüglich Windklasse und Lebensdauer fließen dabei mit in das Gutachten ein. „Die abschließende Bewertung des ersten Teils erfolgt dann anhand einer theoretischen Lastberechnung“, erklärt Konrad. „Die Prüferinnen und Prüfer können die tatsächlich erfolgte Belastung der Anlage während ihrer Betriebszeit auf Grundlage dieser Daten ableiten.“ Aus der Analyse geht hervor, welche Bauteile der Anlage besonders stark beansprucht wurden und wo mögliche Schwachstellen liegen. Bei der Inspektion der Windenergieanlage vor Ort wissen die Sachverständigen dann schon vorab, wo sie genauer hinschauen müssen.
Jede Anlage hat eine andere Geschichte
Wenn nach dem analytischen Part des Gutachtens nichts gegen einen Weiterbetrieb der Anlage spricht, kommt es zum zweiten Teil der Prüfung: dem praktischen Teil. Die Prüfer nehmen die Altanlage vor Ort nun genauer unter die Lupe. Die technische Funktion von sicherheitsrelevanten Bauteilen muss überprüft werden. Dabei geht es unter anderem um irreparable Risse in Maschinenträgern oder im Fundament, unübliche oder nicht vermerkte Reparaturen oder um sicherheitsrelevante Anbauten, wie zum Beispiel eine Rotorblattverlängerung. Auf Grundlage dieser Untersuchungen legt TÜV NORD anlagen- und standortspezifisch das Potenzial des Weiterbetriebs fest.
Fundament, Windverhältnisse, Turbulenzen – jede Anlage hat eine andere Geschichte. Stellt der oder die unabhängige Sachverständige vor Ort im praktischen Teil der Analyse erhebliche Mängel fest, kann es zur Empfehlung des Rückbaus der Anlage nach 20 Jahren kommen. “Ist es jedoch möglich, die beschädigten Bauteile fachkundig zu reparieren oder auszutauschen, befürworten wir den Weiterbetrieb unter Auflagen“, so Konrad.
Gutachten rechtzeitig beantragen
Das Gutachten nach 20 Jahren ist nicht mit der wiederkehrenden Prüfung zu vergleichen, sondern als eigenständige Analyse zu verstehen; es ist weitaus aufwändiger. Betreiber von Altanlagen sollten sich dementsprechend rechtzeitig mit der Frage des Weiterbetriebs und den daraus resultierenden Anforderungen auseinandersetzen. Für die Prüfung benötigen Betreiber alle erforderlichen Dokumente zur Anlage – auch die des Herstellers und des Wartungsunternehmens.
Fachleute BWE-gelistet
Mehrere Fachleute von TÜV NORD EnSys sind beim Bundesverband WindEnergie zur Begutachtung des Weiterbetriebs von Windenergieanlagen gelistet. Mit der namentlichen Nennung in der Liste der vom BWE-Sachverständigenbeirat anerkannten Mitglieder mit der Berechtigung zur Bewertung und Prüfung über den Weiterbetrieb von Windenergieanlagen an Land wird die technische und organisatorische Kompetenz nachgewiesen, um Weiterbetriebsgutachten im Sinne der DIBt-Richtlinie für Windenergieanlagen und des BWE-Grundlagenpapiers „Grundsätze für die Durchführung einer Bewertung und Prüfung über den Weiterbetrieb von Windenergieanlagen (BPW)“ zu erstellen.
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