Arbeitslos am Steuer: Warum Nichtstun nicht gut tut

8. November 2018 | Mobilität: Hat der Mensch nichts mehr zu tun, wird er besonders schnell müde.

Einfach nur zugucken – das fällt vielen Menschen schwer. Genau darin besteht jedoch unsere neue Aufgabe im automatisierten Fahrmodus. Der Auftrag an die Technik lautet deshalb: den Menschen unterhalten! Aber bitte nicht zu viel.

Beim Autofahren im Stau einfach ein Nickerchen halten: So sieht er aus, der Traum vom autonomen Fahren. Vorerst bleibt das allerdings ein Traum, denn solange Autos nicht voll und ganz autonom fahren, brauchen sie den Menschen im Notfall wach am Steuer.

Nur: Hat der Mensch nichts mehr zu tun, wird er besonders schnell müde. Das demonstrierten jüngst die Verkehrspsychologen Tobias Vogelpohl und Mark Vollrath von der TU Braunschweig gemeinsam mit Unfallforschenden vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Sie beobachteten bei der Hälfte der Versuchspersonen im automatisierten Fahrsimulator schon nach 20 Minuten gehäuftes Gähnen und andere Ermüdungserscheinungen; manchen fielen sogar zeitweise die Augen zu. Steuerten sie hingegen den Fahrsimulator selbst, war es erst nach 40 Minuten soweit, und das auch nur dann, wenn die Versuchspersonen in der Nacht höchstens fünf Stunden geschlafen hatten! Die ausgeschlafenen Probanden zeigten selbst nach einer Stunde Fahrt keine Anzeichen von Müdigkeit – sofern sie selbst fahren durften.

„Wir sind ausgesprochen schlecht darin, unter monotonen Bedingungen bei der Sache zu bleiben“, sagt der Psychologe Christian Müller von TÜV NORD. „Wir beschäftigen uns dann lieber anderweitig oder nicken womöglich sogar ein“. Das ist jedoch selbst beim hoch- oder vollautomatisierten Fahren nicht erlaubt. Laut Straßenverkehrsgesetz darf sich der Fahrzeugführer dabei zwar abwenden, muss aber ‚derart wahrnehmungsbereit bleiben, dass er seiner Pflicht jederzeit nachkommen kann‘. Wie schnell er das Steuer wieder übernehmen muss, soll noch festgelegt werden.
Wie also hält man die Fahrenden am Steuer wach, wenn sie dort immer weniger zu tun haben? „Die automatisierten Systeme müssen, wie gesetzlich vorgeschrieben, den Grad der Wachheit überprüfen. Und gegebenenfalls sollten sie für ein kontrolliertes Maß an Unterhaltung sorgen“, empfiehlt Müller. Tatsächlich lässt sich Müdigkeit gut am Blickverhalten ablesen und damit das Risiko einer verlangsamten Reaktion einschätzen. Das richtige Maß an Unterhaltung ist allerdings ein schmaler Grat und noch dazu individuell verschieden: Mancher langweilt sich schnell, ein anderer ist von zusätzlicher Unterhaltung schnell überfordert. Das Unterhaltungsprogramm darf aber auch nicht so gut sein, dass die Insassen gedanklich völlig abtauchen.

Denn wenn wir von anderen Dingen abgelenkt sind, brauchen wir bei schwieriger Verkehrslage mehr Zeit, um uns wieder zu orientieren, stellte erneut ein Team um die Verkehrspsychologen Vogelpohl und Vollrath fest. Einen Teil ihrer Versuchspersonen ließen sie im automatisierten Fahrmodus auf einem Tablet lesen oder spielen. Auf ein Signal hin übernahmen zwar 90 Prozent nach sieben bis acht Sekunden wieder das Steuer. Doch das bedeutete nicht, dass sie die Verkehrslage schon überblickten. So schauten sie bis zu fünf Sekunden später erstmals in den Seitenspiegel und auf die Geschwindigkeitsanzeige als bei manueller Steuerung.

Zunehmende Erfahrung mit automatisierten Fahrfunktionen macht es nicht besser; im Gegenteil steigt dann die Tendenz, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Das beobachteten Forschende vom Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften bei 32 Versuchspersonen mit unterschiedlich viel Fahrpraxis, die ihren Mercedes Benz bei dichtem Verkehr im automatisierten Modus fuhren. In der Verkehrspsychologie kennt man das Phänomen schon lange unter dem Begriff ‚Risikokompensation‘, erläutert der Psychologe Christian Müller von TÜV NORD: Je sicherer wir uns fühlen, desto mehr Risiken gehen wir (unbewusst) ein.

Verkehrsforscher wie der angesehene israelische Ergonom David Shinar warnen: Je stärker die Automatisierung, desto mehr Probleme. Shinar glaubt, der Mensch werde das Fahren auf Dauer verlernen, wenn er überwiegend dabei zuschaue. Man kenne das schon aus der zunehmend automatisierten Luftfahrt, deshalb würden Piloten und Pilotinnen trainiert und auf kritische Situationen vorbereitet. Ein britisches Forschungsteam kritisiert, die Designer von automatisierten Fahrfunktionen hätten „eine für den Menschen unmögliche Aufgabe geschaffen“. Sie müssten ihn in seinen Pflichten besser unterstützen.

„Automatisierte Fahrfunktionen können Unfällen vorbeugen und die Straßen sicherer machen“, erinnert Müller von TÜV NORD: beispielsweise, indem sie den nötigen Abstand halten und beim Spurwechsel den toten Winkel auf dem Schirm haben. Die Technik müsse dabei aber auch den Menschen am Steuer im Blick behalten und ihm seine neuen Aufgaben erleichtern. Experten raten zur ‚Gamification‘, erklärt der Psychologe Christian Müller: die Aufgaben in ein kontrolliertes Spiel einzubetten und so Müdigkeit und Langeweile zu vertreiben oder sogar Fahrfertigkeiten zu trainieren. „Die menschliche Natur birgt nicht nur Probleme, sondern auch deren Lösung: unsere Lust am Spielen!“

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