Eine Verabredung im Biergarten, 20 Uhr war ausgemacht. Um Viertel nach acht schreibt der Freund, dass er sich verspätet. Schon wieder! Warum schaffen es manche Leute einfach nicht, pünktlich zu kommen? Der promovierte Psychologe Ralf Buchstaller von TÜV NORD erklärt, was alles dahinterstecken könnte.
Jeder Mensch ist mal spät dran. Aber bei einigen ist das die Regel. Ob es der Freund ist, der stets zu spät zum Feierabendbier aufbricht, oder der Chef, der immer erst ein paar Minuten nach Sitzungsbeginn auftaucht: Für Wartende fühlt es sich an, als verhielten sich die Zuspätkommenden ihnen gegenüber rücksichtlos und respektlos. „Die Unpünktlichkeit hat aber in der Regel nichts mit ihnen zu tun“, sagt der Psychologe Ralf Buchstaller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Hamburg.
Manchmal kann chronisches Zuspätkommen auf narzisstische Züge hindeuten, zum Beispiel, wenn jemand mit seiner Unpünktlichkeit eine Sonderstellung beansprucht. Oder das Verhalten entsteht aus einer passiv-aggressiven Haltung heraus, etwa, wenn sich der Wartende auch noch anhören muss, dass er sich doch mal locker machen möge.
Der Psychologe Jeff Conte von der San Diego State University hat aber auch Hinweise darauf gefunden, dass manche Menschen die Zeit verzerrt wahrnehmen. Wenn Versuchspersonen ohne Uhr angeben sollen, wann eine Minute vorbei ist, so verschätzen sich kreative, gelassene Persönlichkeiten im Schnitt deutlich: Für sie dauert eine Minute im Schnitt 77 Sekunden. Ehrgeizige und organisierte Menschen haben ein besseres Zeitgefühl; für sie ist eine Minute schon nach 58 Sekunden vorbei. Daneben spielt Conte zufolge auch Multitasking eine Rolle: Wer gerne mehrere Dinge gleichzeitig erledigt, komme eher zu spät. Vermutlich mindere Multitasking die für das Zeitbewusstsein nötigen Kapazitäten.
Die Weichen fürs Zeitmanagement werden schon in der Familie gelegt, berichtet ein Team um Psychologin Jennifer Weil Malatras von der University at Albany. Demnach haben Kinder, die mit täglichen Routinen aufwachsen, als Erwachsene weniger Probleme damit, Termine einzuhalten. Die Forschenden hatten knapp 300 junge Erwachsene zu ihrer Kindheit befragt: zum Familienleben, zu Mahlzeiten und Schlafzeiten, zu Schule und Freizeit. Regelmäßige Aktivitäten halfen demnach nicht nur dabei, ein gutes Zeitmanagement zu entwickeln, sondern auch, Aufmerksamkeitsstörungen im Erwachsenenalter vorzubeugen.
Ist chronisches Zuspätkommen also weniger eine Charakterfrage als ein kognitives Defizit? Davon sprechen jedenfalls einige Forschende. Laut dem Wirtschaftsnobelpreisträger und Psychologen Daniel Kahneman und seinem Kollegen Amos Tversky erliegen viele Menschen einem ‚Planungsfehlschluss‘: Sie unterschätzen die Zeit, die sie für eine Aufgabe brauchen werden, beträchtlich.
Und selbst wenn sie wissen, dass sie mit Verzögerungen rechnen müssen, kalkulieren sie diese nicht realistisch ein, wie Gérald Bronner von der Universität Paris-Diderot demonstrierte. Er stellte 700 Menschen folgende Aufgabe: Ein Mann will von A nach B. Dafür muss er vier Hindernisse überwinden, und bei jedem stehen die Chancen auf Erfolg bei 80 Prozent. Wie groß ist die Chance, dass es bei allen vieren gelingt? Jeder zweite Befragte glaubte, die Wahrscheinlichkeit liege auch dann noch bei 80 Prozent. Doch tatsächlich sind es 41 Prozent (p = 0,84 = 0,41). Viele unterschätzen also das kombinierte Risiko eines Misserfolgs.
Im Alltag geht es nun aber nicht nur darum, die Vorbereitung für einen Termin einzuschätzen, mögliche Stolpersteine einzuberechnen und einen realistischen Plan zu entwickeln. Es kommt auch darauf an, sich an den Plan zu halten – mit Hilfe eines externen Zeitgebers.
Die Psychologin Emily Waldum und ihr Kollege Mark McDaniel von der Washington University gaben Versuchspersonen eine bestimmte Zeit vor, in der sie erst ein Puzzle lösen, dann Wissensfragen beantworten sollten. Im Vorfeld sollten sie einschätzen, wie lange sie für die Fragen brauchen würden. Ihr Erfolg hing davon ab, wie gut ihnen das gelang und wie oft sie auf die Uhr schauten.
Die Forschenden leiten daraus eine Reihe von Tipps ab: zunächst die nötige Zeit realistisch einzuschätzen, für jede Aufgabe und Tätigkeit einzeln. Dann einen Plan mit Zwischenzielen zu formulieren: Wann muss ich mit der einen Sache fertig sein und mit der anderen beginnen? Und nicht zuletzt: auf die Uhr zu gucken und sich an den Plan zu halten.
Das werden die chronisch Späten allerdings nur dann beherzigen, wenn sie das Problem erkennen und sich ändern wollen. Den Wartenden empfiehlt Ralf Buchstaller von TÜV NORD, zunächst nachzufragen, ob es für die häufigen Verspätungen vielleicht einen guten Grund gibt. Wenn nicht, könnten sie schildern, wie sich das Warten für sie anfühlt. Hilft das auch nicht, könne man die Konsequenzen ziehen und sich zum Beispiel nur noch zuhause verabreden, sagt der Psychologe Ralf Buchstaller. „Oder man findet sich mit dem Warten ab, wenn die schönen Seiten der Freundschaft überwiegen, und nimmt immer ein gutes Buch mit.“