Manhattan und die Mannheimer Innenstadt haben etwas gemeinsam: Die Häuserblöcke bilden eine Art Schachbrett. Die meisten Straßen verlaufen also weitgehend parallel oder im rechten Winkel zueinander. Wer dort unterwegs ist, bewegt sich deshalb stets entlang von zwei Achsen und kann sich leicht orientieren.
In derart einfach strukturierten Städten aufzuwachsen, kann später allerdings zum Nachteil werden. Denn in einer komplexeren Umgebung finden sich die Stadtkinder als Erwachsene weniger gut zurecht als die ehemaligen Kinder vom Lande. Zu diesem Ergebnis kam 2022 ein internationales Team um den Neurowissenschaftler Antoine Coutrot von der Universität Lyon.
Die Forschenden hatten Daten von fast 400.000 Menschen aus 38 Ländern ausgewertet, die im Dienst der Wissenschaft auf dem Handy »Sea Hero Quest« gespielt hatten. In diesem Videospiel, das allein zu Forschungszwecken entwickelt wurde, lenkten die Versuchspersonen ein virtuelles Boot und steuerten bestimmte Orte an. In einer zweiten Version des Spiels, genannt »City Hero Quest«, erledigten sie vergleichbare Aufgaben in einer virtuellen Stadt.
Grundsätzlich half es bei der Orientierung, wenn die unbekannte virtuelle Welt ähnlich einfach oder komplex strukturiert war wie die alte Heimat. Das Navigieren auf dem Wasser – einer Umwelt ohne klare Struktur – fiel außerdem jenen Versuchspersonen leichter, die auf dem Land aufgewachsen waren. Die Landkinder schnitten überdies umso besser und die Stadtkinder umso schlechter ab, je länger der Weg zum Ziel war.
Fazit: Auf dem Land aufzuwachsen, trainiert das räumliche Gedächtnis. Denn dort, so erklären die Forschenden, muss man sich Richtung und Route besser einprägen als in einfach strukturierten Städten. Allerdings fielen die Unterschiede zwischen Stadt- und Landkindern in den USA am größten aus. Nur in wenigen anderen Ländern wie Kanada zeichnete sich der Effekt des Heimatortes ähnlich deutlich ab. Deutlich schwächer war der Vorteil für Landkinder in Deutschland, in der Schweiz war er sogar ganz verschwunden. In diesen Ländern gebe es viele Städte »mit komplexerem Layout«, erläutern Coutrot und sein Team. Die Navigationskünste der Stadtkinder würden deshalb ähnlich gefordert wie die der Kinder vom Lande.
Experimente an Mäusen bestätigen den besonderen Einfluss von frühen Erfahrungen. Wie gut sich die ausgewachsenen Nagetiere im Raum orientieren können, hängt auch bei ihnen davon ab, ob sie in Käfigen mit komplexer Wegführung aufgewachsen sind.
Aber natürlich hat es nicht nur mit der Kindheit zu tun, wie gut wir uns auf unbekanntem Terrain zurechtfinden. „Es hängt auch mit der aktuellen Umgebung zusamme“«, sagt Katrin Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Düsseldorf. Das zeigte beispielsweise eine Umfrage von Forscherinnen der LMU München 2019. Die knapp 800 Befragten sollten angeben, wie sie normalerweise zu ihrem Ziel gelangen. Je ländlicher ihr aktueller Wohnort, desto ausgefeilter ihre Strategien und desto eher orientierten sie sich an Himmelsrichtungen anstatt an bekannten Gebäuden und anderen Landmarken.
Und auch wenn ein Grundstein in der Kindheit gelegt wird, sind solche Fähigkeiten nicht auf alle Zeiten festgeschrieben. »Erwachsene können ihren Orientierungssinn trainieren«, betont die promovierte Psychologin Katrin Müller. Damit sollte man allerdings möglichst früh beginnen. Eine chinesische Studie stellte fest, dass ein Training der »mentalen Rotation«, ein klassisches Maß für räumliche Orientierung, im Alter von 18 Jahren am meisten Erfolg versprach.
Mit den eigenen Kindern kann man auch frühzeitig üben. Katrin Müller von TÜV NORD empfiehlt: „Wenn die Familie gemeinsam unterwegs ist, sollten die Kinder mal die Führung übernehmen dürfen – natürlich ohne aufs Handy zu gucken.“ Und sollte sich die Familie bei dieser Übung verirren, können die Eltern mit gutem Beispiel vorangehen und nach dem Weg fragen.
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