Hannover: Im Mai 2021 endet die Übergangsfrist der neuen EU-Medizinprodukte-Verordnung Medical Device Regualation (MDR). Hersteller müssen sich damit auf schärfere gesetzliche Anforderungen für die Marktüberwachung ihrer Produkte einstellen. Jörg Stockhardt, Medizinprodukte-Experte und Referent der TÜV NORD Akademie, nennt die wichtigsten Punkte. Diese und weitere Änderungen werden auch auf einer Fachtagung zur Medizinprodukterichtlinie im Februar thematisiert.
Bei einigen Medizinprodukten zeigt sich erst in der alltäglichen Anwendung, dass es zu Problemen kommen kann. „Beispielsweise wenn ein Pflaster auf verletzte Haut geklebt wird, auf die vorher eine Hautcreme aufgetragen wurde – die Kombination kann zu Interaktionen führen“, erläutert Medizinprodukte-Experte Jörg Stockhardt. „Oder eine Ernährungssonde lässt sich für die in Deutschland übliche gebrauchsfertige Nährlösung optimal einstellen. Aber in Ländern, wo dafür von Angehörigen Haferschleim angerührt wird, funktioniert sie womöglich nicht genau und zuverlässig genug.“ Aus diesem Grund sind nicht nur die zuständigen Behörden, sondern auch die Hersteller selbst verpflichtet, ihre Medizinprodukte zu überwachen, nachdem sie sie in Verkehr gebracht haben.
In einem aktiven und systematischen Prozess, so definiert es die Medizinprodukterichtlinie (MDR), müssen Hersteller in der „Post-Market-Surveillance“ Informationen über die tatsächliche Verwendung ihrer Produkte sammeln und auswerten. So soll frühzeitig erkannt werden, wenn Produkte verbessert oder zusätzliche Maßnahmen zur sicheren und leistungsfähigen Verwendung ergriffen werden müssen. Das Ziel: mehr Transparenz über oft lange, internationale Liefer- und Distributionsketten hinweg – und mehr Sicherheit für die Betroffenen.
Striktere Regeln ab Mai 2021
Mit Einführung der MDR gelten ab 26. Mai 2021 verschärfte Regeln für die Post-Market-Surveillance (PMS):
- Die PMS ist nun fester Bestandteil der Medizinprodukterichtlinie und wird damit gesetzliche Verpflichtung. Zuvor war ihre Ausführung lediglich in den Medical Device Leitfaden-Dokumenten geregelt und hatte damit keine Rechtsverbindlichkeit.
- Hersteller sind künftig gesetzlich dazu verpflichtet, auch Produkte ihrer Mitbewerber zu beobachten. Dazu müssen sie zum Beispiel wissen, wo ihre Produkte verwendet werden und welche anderen Produkte aus denselben Materialien oder für vergleichbare Zwecke dort eingesetzt werden.
- Auch eine Literaturrecherche wird zur Pflicht: In einem systematischen Verfahren müssen Datenbanken nach neuen Studien oder Erfahrungsberichten zu eigenen oder ähnlichen Produkten durchsucht werden. Bei letzteren müssen die Hersteller zudem die Vergleichbarkeit nachweisen.
Zusätzliche Sicherheitsberichte gefordert
„Der Aufwand für die Unternehmen steigt beträchtlich“. sagt Jörg Stockhardt, langjähriger Referent der TÜV NORD Akademie, der Firmen zu den Marktanforderungen an Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika berät. Zwar brauchten Hersteller auch bisher zum Beispiel schon eine klinische Bewertung, wenn sie ein neues Produkt auf den Markt bringen wollen. „Künftig müssen die Hersteller aber für jedes Produkt einen individuellen Beobachtungsplan haben“, so Stockhardt. Oder zumindest für jede generische Produktgruppe, deren Zusammengehörigkeit dann nachzuweisen ist.
Für Medizinprodukte höherer Sicherheitsklassen gibt es weitere Anforderungen: Ab Klasse IIa, beispielsweise für Zahnkronen, Hörgeräte und Kontaktlinsen, ist mindestens alle zwei Jahre ein aktualisierter Sicherheitsbericht fällig, der auch eine statistische Auswertung, Reklamations- und Marktbeobachtungsdaten sowie Verkaufszahlen beinhaltet. Bei Produkten der Klasse III, dazu gehören z.B. Herzkatheter, künstliche Gelenke und Herzschrittmacher, muss dieser regelmäßige Sicherheitsbericht, der „Periodic Safety Update Report“, mindestens jährlich aktualisiert, einer benannten Stelle vorgelegt und von dieser bewertet werden, um dann in eine europäische Datenbank eingestellt zu werden.
Trend-Report zeigt größer werdende Risiken auf
Auch veränderte Nutzungsgewohnheiten stehen im Fokus: „Künftig müssen Hersteller einen Trend-Report erstellen“, erklärt Jörg Stockhardt. „Wenn der Hersteller bei der Nutzung seines Produkts bekannte Gefährdungen feststellt, die in seinem Risikomanagement bereits als akzeptabel bewertet wurden, aber die aktuell beobachteten Daten von denen der Vergangenheit wesentlich abweichen, muss er das bei einem verschlechterten Nutzen-Risiko-Verhältnis den Behörden melden.“
Um all das zu stemmen, benötigen Unternehmen personelle Ressourcen im Bereich Regulatory Affairs. Für Medizinprodukte-Hersteller in Deutschland, die eher klein und mittelständisch geprägt sind, bedeutet das zusätzliche Kosten – und die gefragten Fachleute sind ohnehin kaum zu bekommen, der Markt ist leergefegt. „Die Unternehmen müssen ihr eigenes Personal fortbilden“, empfiehlt Stockhardt. Zu den Aufgaben der Fachleute gehören dann nicht nur umfangreiche Internetrecherchen, um die neusten Regelungen und Meldungen der Behörden zu verfolgen. „Auch für die Bewertung der zusammengetragenen Daten braucht es Expertise“, betont Stockhardt.
Wie sich Hersteller auf die neue Europäische Medizinprodukteverordnung einstellen können, steht im Mittelpunkt der MDR-Fachtagung der TÜV NORD Akademie, die am 24. Februar 2021 in Hannover oder online stattfinden wird: https://www.tuev-nord.de/de/weiterbildung/seminare/medical-device-regulation-mdr-fachtagung-a/
Mehr Informationen über die Neuerungen der Europäischen Medizinprodukteverordnung im Wissensportal der TÜV NORD Akademie: https://www.tuev-nord.de/de/unternehmen/bildung/wissen-kompakt/medizinprodukteverordnung/was-die-einfuehrung-der-mdr-fuer-hersteller-von-medizinprodukten-bedeutet/
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