Man fährt abends erschöpft mit dem Auto nach Hause. Eigentlich ist es gar nicht kalt, aber der Körper fröstelt. Eine Hand reibt über die schweren Glieder, über das Gesicht, die Augen. Die Lider hängen tief, der Blick geht starr übers Lenkrad ins Leere. Die Straße scheint immer schmaler zu werden. Nur mit größter Anstrengung gelingt es noch, die Spur zu halten.
„Höchste Zeit für eine Pause und ein Nickerchen“, mahnt Christian Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Köln. „Jeden Moment könnte der Sekundenschlaf einsetzen.“ Dann befindet man sich im ersten von vier Schlafstadien, der Einschlafphase, in der das Gehirn nach und nach in den Schlafzustand übergeht. Zuerst schaltet der Thalamus ab, das Tor zum Bewusstsein für Sinneseindrücke aus der Außenwelt. Die Großhirnrinde, die unter anderem fürs bewusste Denken und Handeln zuständig ist, folgt etwas später. So bleibt zunächst der Eindruck, wach zu sein, obwohl Teile des Gehirns bereits schlafen.
Warum das gefährlich ist, liegt auf der Hand. Wer nur für einen kurzen Augenblick einnickt, verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Bei 50 Stundenkilometern genügt eine einzige Sekunde, um 14 Meter „blind“ zu fahren – mehr als genug, um auf die Gegenfahrbahn zu geraten. Bei Tempo 80 legt ein Auto in drei Sekunden schon knapp 70 Meter zurück.
Laut offizieller Unfallstatistik ist Müdigkeit zwar nur an rund 0,5 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle schuld, berichtet der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR). Doch diese Zahl beinhalte nur jene seltenen Fälle, in denen die Verursacher ihre Müdigkeit gestehen. Fast jeder vierte tödliche Pkw-Unfall gehe auf Einschlafen am Steuer zurück, schätzt der DVR.
Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) vergleicht die Wirkung von Müdigkeit sogar mit der von Alkohol: Schon nach 17 Stunden ohne Schlaf leide das Reaktionsvermögen wie unter 0,5 Promille Alkohol im Blut. Wer seit 6 Uhr morgens wach ist, dürfte sich demnach um 23 Uhr nicht mehr ans Steuer setzen. Und wer nach einer schlaflosen Nacht ins Auto steigt, muss sogar damit rechnen, im Verlauf von rund einer Stunde beim Fahren einzudösen. In einem Experiment der Universität Wuppertal passierte das drei von vier Männern. Nachdem sie 27 Stunden nicht geschlafen hatten, nickten sie im Fahrsimulator im Schnitt nach 52 Minuten ein.
Schlafmangel — die unterschätzte Gefahr
Auch eine Nacht mit fünf bis sechs Stunden Schlaf kann bereits diesen Effekt haben. Bei einem Experiment an der Queensland University of Technology in Australien fiel mehr als jeder Zehnte im Fahrsimulator zeitweise in Sekundenschlaf – obwohl die Versuchspersonen anhalten sollten, sobald sie nicht mehr sicher fahren konnten. Das Risiko steigt, wenn der Schlaf tagelang zu kurz kommt. Im Verlauf von einer Woche mit nur vier Stunden Schlaf pro Nacht trat der Sekundenschlaf immer schneller ein, wie eine Studie an gesunden jungen Männern in Frankreich beobachtete.
Aber nicht nur die Schlafdauer zählt, sagt der Psychologe Christian Müller. „Auch ein wenig erholsamer Schlaf, zum Beispiel wegen Atemaussetzern, kann Sekundenschlaf verursachen.“ Äußere Umstände tragen ebenfalls dazu bei, wie Schichtarbeit und lange monotone Strecken. Ebenfalls ungünstig sind schläfrige Beifahrer, denn Müdigkeit wirkt ansteckend.
Gefährlich wird es besonders dann, wenn die Einsicht in die eigenen Grenzen fehlt. Viele können oder wollen ihre Müdigkeit nicht erkennen – oder ziehen daraus zumindest nicht die nötigen Konsequenzen. Selbst im Fahrsimulator fällt das vielen schwer. In einer Schweizer Studie ließ mehr als die Hälfte der Versuchspersonen keine Einsicht erkennen. Sie sollten viermal 40 Minuten im Fahrsimulator fahren, nachdem sie die Nacht zuvor wachgehalten wurden. 17 der 28 schliefen dabei ein, ohne wie vereinbart bei Schläfrigkeit ein Signal zu geben.
Koffein und laute Musik sind kein Allheilmittel
Immerhin gestehen gut ein Viertel der deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer ein, mindestens einmal am Steuer eingeschlafen zu sein. Mehr als jedem Zwanzigsten ist das nach eigenen Angaben sogar schon häufiger passiert. Das ermittelte der DVR 2016 in einer Telefonumfrage. Die Mehrheit berichtete auch, etwas gegen Müdigkeit zu unternehmen: Rund 60 Prozent gaben an, das Fenster aufzumachen, 38 Prozent trinken Koffeinhaltiges, 30 Prozent machen die Musik lauter.
„Das genügt aber nicht“, warnt Christian Müller von TÜV NORD. „Bei ersten Anzeichen von Müdigkeit muss man anhalten, sich bewegen und frische Luft tanken. Und wenn das nicht ausreicht oder noch eine längere Fahrt bevorsteht, ist ein kurzes Schläfchen unabdingbar“, mahnt er. Der Wecker müsse aber nach 15 bis 20 Minuten wieder klingeln – sonst falle man in Tiefschlaf und wache schlaftrunken wieder auf. „Am besten vor dem Nickerchen einen Kaffee trinken, dann beginnt das Koffein nach 15 bis 20 Minuten zu wirken.“
Damit müde Fahrerinnen und Fahrer den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen, werden Neufahrzeuge in der EU ab spätestens 2024 mit einem Assistenzsystem ausgestattet, das die Aufmerksamkeit am Steuer überwacht. Solche „Müdigkeitswarner“ analysieren zum Beispiel kaum spürbare Lenkabweichungen und fordern mit einem Signal, zum Beispiel einer blinkenden Kaffeetasse, zu einer Pause auf.
Diese und andere Maßnahmen wie Rüttelstreifen am Fahrbahnrand können kurzfristig Leben retten. Auf Dauer helfe aber nur eines, sagt der Psychologe Christian Müller, „ausreichend erholsamer Schlaf“. Und im Zweifelsfall aufs Auto verzichten.
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