Im Straßenverkehr sterben immer wieder Menschen, weil Rettungskräfte nicht schnell genug vor Ort sind. „Manche Schwerverletzten könnten überleben, wenn sie in der Zwischenzeit Erste Hilfe von Laien bekämen“, sagt Ralf Buchstaller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Hamburg. Aber diese Hilfe bleibt viel zu oft aus. „Die meisten, die zufällig an einem Unfall vorbeikommen, wählen lediglich den Notruf.“
Darauf lässt unter anderem eine Studie der University of Manchester schließen. Untersucht wurden überwiegend unfallbedingte Todesfälle, bei denen die Opfer eine passable Überlebenschance hatten, aber noch vor der Ankunft im Krankenhaus starben. In mehr als 90 Prozent der Fälle waren Unbeteiligte vor den Rettungskräften vor Ort, und fast alle setzten einen Notruf ab. Doch nur knapp 50 Prozent leisteten Erste Hilfe.
Auf der Autobahn stehen die Chancen besonders schlecht, wie US-Daten von knapp zwei Millionen medizinischen Notfällen auf öffentlichen Straßen zeigten. Die Forschenden von der Cornell University berichteten, dass insgesamt sogar nur 1 von 39 Personen Beistand bekam, bevor die Rettungskräfte eintrafen.
Warum bleiben so viele untätig, wenn ein anderer Mensch in Lebensgefahr schwebt?
Die Forschung zu dieser Frage begann mit dem Fall von Kitty Genovese: Die junge Frau wurde 1964 in New York nahe ihrer Wohnung ermordet, während zahlreiche Nachbarn sie schreien hörten. Forschende tauften das Phänomen „Bystander-Effekt“ oder „Zuschauer-Effekt“: Demnach sinkt die Chance, dass eine Person hilft, im Beisein weiterer potenzieller Helferinnen und Helfer. Zum einen warten viele lieber ab, ob jemand anders etwas unternimmt, besonders in Fällen, in denen die Notlage nicht eindeutig ist. Zum anderen verteilt sich die Verantwortung auf mehrere Schultern, nach dem Motto: warum ich – die anderen könnten doch auch helfen. Kameras wirken dem Bystander-Effekt entgegen, stellten niederländische Forschende fest.
Für ihr Experiment inszenierten sie einen Diebstahl so, dass ihre Probandinnen und Probanden ihn scheinbar zufällig beobachten konnten. War die Versuchsperson in diesem Moment in Gesellschaft von zwei weiteren Personen, griff sie seltener ein als allein. Doch die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens stieg, sofern eine Sicherheitskamera das Geschehen filmte. „Wir verhalten uns anders, wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden und uns womöglich für unser Nichtstun rechtfertigen müssen“, erklärt der promovierte Psychologe Ralf Buchstaller von TÜV NORD.
Mitmenschen in akuter Not zu helfen, ist eine Bürgerpflicht. Wer sich dessen nicht bewusst ist, sollte zumindest aus Mitgefühl handeln. Ist also Gefühlskälte schuld am verweigerten Beistand? Laut einer Übersichtsstudie erklären Befragte ihre Tatenlosigkeit vielmehr damit, dass die Hilfe gar nicht nötig schien oder dass sie fürchteten, etwas falsch zu machen und später deshalb Ärger oder sogar eine Anzeige zu bekommen.
Ein Erste-Hilfe-Kurs kann das ändern.Er fördert nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Bereitschaft, bei einem Unfall anzuhalten und zu helfen. Zum Beispiel der einstündige Kurs „Stop the bleed“ von der gleichnamigen US-Kampagne: Er soll Laien beibringen, wie man Blutungen stoppt. Denn wie die Initiative informiert, ist Verbluten eine der Hauptursachen dafür, dass Menschen nach einem Unfall ihren Verletzungen erliegen – im Schnitt innerhalb von drei bis fünf Minuten. So schnell sind Rettungssanitäter in der Regel nicht vor Ort. Die einzige Hoffnung für diese Verletzten: dass sich schon vorher jemand ein Herz fasst.
„Unterlassene Hilfeleistung ist strafbar, sofern die Hilfe zumutbar ist“, erinnert Ralf Buchstaller von TÜV NORD. Ein Nicht-Schwimmer etwa muss nicht ins Wasser springen, um einem Ertrinkenden zu helfen. Aber es eilig zu haben, gilt nicht als Hinderungsgrund. Ebenso wenig die Angst, beim Helfen etwas falsch zu machen: „Wenn die Hilfe körperlichen Schaden verursacht, droht der helfenden Person keine Strafe, solange sie nach bestem Wissen und nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat“, erläutert Buchstaller. Wichtig dabei: Zum Schutz aller Beteiligten sollte man zunächst die Unfallstelle absichern, erst dann den Notruf wählen und Erste Hilfe leisten.
Egal ob das Opfer überlebt oder alle Hilfe zu spät kommt: Eine solche Erfahrung ist nicht leicht zu verarbeiten. Wer darüber sprechen will, findet bei der Telefonseelsorge rund um die Uhr ein offenes Ohr. Wenn die Erlebnisse dauerhaft Spuren in der Psyche hinterlassen haben, ist weitere professionelle Hilfe nötig. »Bei manchen prägt sich das Erlebte tief ein, sie können die Bilder eines Unfalls nicht vergessen«, berichtet der Psychologe. »Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.« Ein Gespräch mit der Hausärztin oder dem Hausarzt kann der erste Schritt sein, und in dringenden Fällen sollte man die psychiatrischen Ambulanzen von Kliniken aufsuchen, rät Buchstaller. „Hilfe leisten, Hilfe suchen: Beides gehört zum Leben dazu.“
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