Warum Menschen in Europa pilgern

27. September 2022 | Mobilität: Das Pilgern hat in den vergangenen Jahren an Popularität gewonnen. Doch im heutigen Pilgertourismus geht es weniger um die Suche nach Gott als um das Laufen und die Ruhe in der Natur.

Der Weg ist das Ziel: ob im ChristentumJudentumIslamBuddhismus oder dem Hinduismus – in allen großen Weltreligionen ist das Pilgern weit verbreitet. In Deutschland gewann die mittelalterliche Tradition an Popularität, als der Komiker Hape Kerkeling 2006 in einem Buch von seiner eigenen Pilgerreise erzählte. In dem Bestseller „Ich bin dann mal weg“ schilderte er seine Wallfahrt auf dem knapp 800 Kilometer langen „Camino Francés“, dem beliebtesten der Jakobswege nach Santiago de Compostela, wo der Apostel Jakobus begraben sein soll.  

Der Ort im Nordwesten Spaniens zählte vor der Pandemie knapp 300.000 Pilgerinnen und Pilger im Jahr. Auch andernorts bekommen Pilgerwege vermehrt Zulauf. Was treibt immer mehr Menschen an, anstelle von Strandurlaub eine vergleichsweise beschwerliche Reise auf sich zu nehmen?

„Vor zehn Jahren war für viele Pilgernde der Glaube noch eines der wichtigsten Motive“, sagt Philip Frieg vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Dortmund. Heute spiele die Religion eine untergeordnete Rolle. Wie die Forschung zeigt, pilgern die meisten Menschen in Europa inzwischen aus anderen Gründen, berichtet der promovierte Psychologe.

Eine große Studie aus dem Jahr 2018 stammt von der portugiesischen Ökonomin Suzanne Amaro und ihren Kolleginnen. Via Internet suchten sie nach Menschen, die auf dem Jakobsweg gepilgert waren, und fragten sie nach ihrer Motivation. In den Antworten von mehr als 1100 Menschen aus 45 Ländern identifizierten sie mit statistischen Methoden acht Gruppen von Motiven.

Religion und Tradition erwiesen sich dabei als am wenigsten bedeutsam. Wichtiger war es den Pilgernden, den Alltag hinter sich zu lassen, fremde Menschen und Orte kennenzulernen, Kultur und Geschichte zu erleben und sich in der Natur zu bewegen. Am meisten sehnten sie sich jedoch nach Ruhe, Alleinsein, nach einem einfachen Leben – »spirituelle Motive«, so nennen es die Forscherinnen. Sie vergleichen den typischen Pilger mit »einem Backpacker, der dem Alltag und der Gesellschaft entfliehen will und eine andere Art zu leben sucht«.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Befragung aus dem Jahr 2020 auf den Olavswegen zum Nidarosdom im norwegischen Trondheim. Die Motive ließen sich wiederum zu acht großen Gruppen zusammenfassen. Ganz oben stand hier allerdings der Wunsch nach Bewegung, Langsamkeit und Naturerleben, danach folgten Reflektion und Selbsterkenntnis. Das Team um den Naturforscher Odd Inge Vistad hatte die 276 Pilgerinnen und Pilger direkt am Weg angeworben; 40 Prozent kamen aus Deutschland. Die meisten waren allein oder zu zweit unterwegs. Im Mittel liefen sie drei Wochen lang ungefähr 20 Kilometer am Tag.

Ihre Motive entsprachen damit weitgehend denen von Reisenden auf gewöhnlichen Wanderwegen, stellte die Forschungsgruppe fest. Mit einer Ausnahme: Die Pilgernden interessierten sich weniger für Aufregung und Abenteuer – eines der wichtigsten Motive beim Wandern, wie eine Studie in einem schwedischen Nationalpark zeigte. Auf den Olavswegenlaufen die Menschen eher, um zur Ruhe zu kommen, so das Fazit von Vistad und seinem Team. Die Mehrheit schätze das einfache Pilgerleben, das langsame Laufen und die Zeit zum Nachdenken.

„Die Grenzen zum Wandern sind fließend«, sagt Philip Frieg von TÜV NORD. Für viele Pilgernde ist die Bewegung in der Natur aber nicht das alleinige Ziel: „Es geht auch um eine innere Reise, um Selbstfindung und Neuorientierung.“ Meist gebe es mehrere Motive. „Nicht alle sind uns auch bewusst“, merkt der Psychologe Philip Frieg an. „Manche verborgene Sehnsucht offenbart sich erst unterwegs.“   

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