Warum Menschen nach einem Unfall flüchten

Sich unerlaubt vom Unfallort zu entfernen, ist ein Massendelikt. Die Gründe sind vielfältig. Manche wissen nicht, was sie tun.

Beim Ausparken kurz nicht aufgepasst, schon ist es passiert: Das benachbarte Auto hat einen Kratzer. Viele meinen, es genüge in solchen Fällen, einen Zettel mit Namen und Telefonnummer an die Windschutzscheibe zu klemmen – dann dürfe man weiterfahren. „Ein verbreiteter Irrtum“, warnt Ralf Buchstaller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Hamburg. Denn damit entfernt man sich unerlaubt vom Unfallort. »In Deutschland ist das eine Straftat«, stellt der psychologische Gutachter klar, „auch bei Bagatellschäden und auch, wenn man sich ein paar Stunden später noch bei der Polizei meldet.“

In vielen Situationen ist der sofortige Anruf bei der Polizei ohnehin zwingend erforderlich, sagt Buchstaller: zum Beispiel, wenn es Verletzte gibt, wenn Verkehrszeichen beschädigt sind oder bei gefährlichen Unfallstellen wie auf der Autobahn. Bei einem kleinen Kratzer kann es hingegen genügen, wenn die Unfallbeteiligten Daten austauschen und ihrer Versicherung melden – sofern sich alle Beteiligten einig sind, wer die Schuld trägt.

Doch dafür muss man am Unfallort gegebenenfalls auf den Geschädigten warten, um seine Personalien zu hinterlassen. Die Wartedauer ist nicht einheitlich geregelt; sie hängt ab von den Umständen, sollte aber schon bei Bagatellschäden eine halbe Stunde nicht unterschreiten. Sofern niemand auftaucht, ist eine unverzügliche Meldung bei der Polizei allerdings Pflicht, erinnert der Psychologe Buchstaller. „Nur in Ausnahmefällen ist das Verlassen des Unfallorts zu anderen Zwecken erlaubt, etwa der Verkehrssicherheit wegen oder um Verletzungen zu versorgen.“ Das gilt für alle Unfallbeteiligten, auch wenn sie zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs waren.

Bei Unfallflucht drohen empfindliche Strafen 

Bei Unfallflucht droht eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Fahrverbot oder Entzug der Fahrerlaubnis und der Verlust des Versicherungsschutzes. Dennoch ist Unfallflucht ein Massendelikt, und das nicht nur, wenn man Bagatelldelikte dazuzählt. Im Jahr 2021 sind dem Statistischen Bundesamt zufolge knapp 36.000 Menschen nach einem schweren Verkehrsunfall geflohen – sechs Prozent aller an einem Unfall beteiligten Personen. Bei Unfällen mit Verletzten oder Toten waren es fünf Prozent; bei schweren Sachschäden elf Prozent. Die Zahl der Flüchtigen nach leichteren oder nicht gemeldeten Schäden beträgt Schätzungen zufolge ein Vielfaches.

Daten aus den USA kommen auf ähnliche Quoten. Zum Beispiel kam es in Boston zwischen 2009 und 2012 bei Kollisionen zwischen motorisierten Fahrzeugen und Radfahrenden in sechs Prozent der Fälle zur Flucht. Nach Unfällen, die für beteiligte Fußgänger tödlich endeten, flüchteten sogar 18 bis 20 Prozent der Autofahrenden.

Den US-Studien zufolge war eine Unfallflucht in der Nacht und am Wochenende wahrscheinlicher, ebenso im alkoholisierten Zustand und ohne gültigen Führerschein. Junge Männer waren überproportional vertreten. Dagegen war eine Flucht seltener, wenn das Opfer ein Kind oder im fortgeschrittenen Alter war. Das zeigt, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen können: Bei Opfern, die besonders hilflos erscheinen, schlägt offenbar das Gewissen eher an. Und im Dunkeln rechnen sich die Beteiligten wohl bessere Chancen aus, ungesehen davonzukommen.

Deutscher Vekehrsgerichtstag empfiehlt Reform

In Deutschland werden rund 40 Prozent der Unfallflüchtigen ermittelt, mehr noch bei Unfällen mit Toten und Verletzten. Die Polizei Bayern klärt nach eigenen Angaben sogar 80 Prozent aller Unfallfluchten mit Schwerverletzten auf. Wäre bekannt, dass die meisten Flüchtigen erwischt werden, könnte das vorbeugend wirken. Eine höhere Effektivität der Justiz habe eine erhebliche Signalwirkung, stellte eine Studie in mehr als 3000 US-Bezirken fest. Entsprechend kritisch werden Vorschläge aufgenommen, Unfallfluchten ohne Personenschaden zu entkriminalisieren: Fachleute fürchten, das werde die Hemmschwelle senken.

Gegen eine Entkriminalisierung stimmte Anfang 2024 auch ein Arbeitskreis des Deutschen Verkehrsgerichtstags. Er empfahl außerdem, die Vorschriften für Unfallbeteiligte zu reformieren, unter anderem eine Mindestwartezeit festzulegen und eine zentrale Meldestelle einzurichten, verbunden mit der Möglichkeit, einen Unfall innerhalb von 24 Stunden straffrei nachzumelden. Bislang wirkte sich eine verspätete Meldung bei der Polizei höchstens strafmildernd aus, und das auch nur bei Sachschäden.

Die Neuerungen könnten es Unfallflüchtigen erleichtern, sich im Nachhinein umzuentscheiden. Denn die Flucht ist oft eine Kurzschlussreaktion: Stresshormone wie Adrenalin überfluten den Körper und lösen ein instinktives Fluchtverhalten aus. Eine solche Panikreaktion ist eine der häufigsten Begründungen für Unfallflucht, ergab eine britische Studie an 52 verurteilten Unfallflüchtigen. Eigenen Angaben zufolge handelten die meisten aus Selbstschutz – entweder im Panik-Modus oder um mögliche Folgen abzuwenden, zum Beispiel wenn sie ohne Führerschein oder betrunken am Steuer saßen. Andere behaupteten, sie hätten den Unfall nicht bemerkt oder hätten gedacht, es habe sich nur um eine Bagatelle gehandelt, die man nicht melden müsse.

Ähnlich äußerten sich viele verurteilte Unfallflüchtige in Belgien. Das dortige Institut für Verkehrssicherheit hatte 853 von ihnen befragt, darunter überwiegend Männer und die meisten nicht älter als 25 Jahre. Die häufigste Entschuldigung: Ich dachte, das wäre ein Tier gewesen. In 42 Prozent der Fälle stand die flüchtige Person unter Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen. Das erschwere eine vernünftige Entscheidung, erklärt der Verkehrspsychologe Ludo Kluppels, besonders in den ersten Sekunden nach dem Unfall, wenn Emotionen wie Angst, Scham und Schuldgefühle vorherrschen. Die meisten Menschen verfügten zwar über die nötige Selbstkontrolle, um trotzdem verantwortlich zu handeln – aber nicht alle.

„Bei einer kleinen Gruppe ist es nicht eine überwältigende Flut von Emotionen, die zur falschen Entscheidung führt, sondern ein Mangel an Emotion“, berichtet Kluppels. Ihnen fehle der moralische Kompass; sie scherten sich nicht um andere Menschen, Regeln und Gesetze, sondern nur um ihr eigenes Interesse – der Strafe zu entgehen. Zwar haben Menschen generell einen starken Drang, Unangenehmes zu vermeiden. Doch in der Regel widerstehen sie dem Impuls, weil sie keine schlechten Menschen sein wollen und eine Flucht gegen Gesetze, soziale Normen und moralische Werte verstoßen würde. „Verhalten sie sich dennoch falsch, entsteht eine kognitive Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkei“«, erklärt der promovierte Psychologe Ralf Buchstaller. „Um den Widerspruch aufzulösen, suchen sie nach Ausreden oder Rechtfertigungen.“ Das Gewissen mag sich damit beruhigen lassen. Eine Strafe droht ihnen trotzdem.

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