An einer Ampel krachen zwei Autos ineinander. Die Polizei befragt einen Zeugen, wie er den Unfall gesehen hat: War die Ampel noch grün? Welches Auto hat geblinkt? Und wer saß am Steuer? Beim Befragen von Augenzeugen kann man viel falsch machen, sagt der promovierte Psychologe Ralf Buchstaller von TÜV NORD. „Schon eine suggestive Frage genügt, um das Gedächtnis auf eine falsche Fährte zu locken.“
Falsche Erinnerungen können sich unbemerkt in unser Gedächtnis einnisten.
University of Washington, Anfang der Siebzigerjahre. Studierende nehmen an einem Experiment teil: Sie sehen kurze Filmaufnahmen von Verkehrsunfällen und beantworten wiederholt Fragen zum Unfallhergang. Je nachdem, wie die Fragen formuliert sind, berichten die Versuchspersonen allerdings Unterschiedliches. Ist in einer Frage von einem heftigen Aufprall der Autos die Rede, so behaupten die Versuchspersonen noch eine Woche später vermehrt, sie hätten Glasscherben gesehen – obwohl keine zu sehen waren.
Das Experiment der Psychologin Elizabeth Loftus und ihres Kollegen John Palmer ist ein Klassiker der psychologischen Forschung. „Es demonstriert, wie leicht sich Erinnerungen unbemerkt verfälschen lassen“, erläutert Dr. Ralf Buchstaller von TÜV NORD. Um möglichst unbeeinflusste Zeugenaussagen zu bekommen, empfiehlt er deshalb offene und neutrale Fragen, zum Beispiel: Was ist passiert? Was haben Sie gesehen? Was geschah dann?
Außerdem raten Fachleute, die Aussagen von Augenzeugen kurz nach einem Unfall aufzunehmen. Denn sobald sich eine Erinnerung im Langzeitgedächtnis festsetzt, beginnt auch schon der Prozess des Vergessens. Werden die Gedächtnisspuren zwischenzeitlich wieder aktiviert, weil die Zeugen zum Beispiel etwas über den Unfall in der Zeitung lesen, können daraus Scheinerinnerungen entstehen. Selbst wenn die Zeugen (mäßig) betrunken sind, sollte man sie besser sofort befragen, ergab ein Experiment der Rechtspsychologin Nadja Schreiber Compo und ihres Teams.
Das Gedächtnis tut sich vor allem dann schwer, wenn es sich um ein kurzes, plötzliches und bedrohliches Ereignis handelt, aber auch nach seelischen oder körperlichen Anstrengungen. In einem Experiment inszenierten Forschende gemeinsam mit der Londoner Polizei einen Vorfall, bei dem Beamte von einem fremden Menschen angeschrien wurden. Die Hälfte von ihnen erkannte diese Person später bei einer Gegenüberstellung wieder – aber nach einem Boxtraining gelang das nur halb so vielen. Außerdem identifizierten sie rund dreimal öfter eine falsche Person.
Selbst hochtrainiertes Militärpersonal ist nicht vor Irrtümern gefeit, wie ein Experiment der Yale University gemeinsam mit der U.S. Army zeigte. 500 Streitkräfte mussten sich im Rahmen eines Überlebenstrainings einem mehr als halbstündigen Verhör unterziehen. 24 Stunden später sollten sie unter 15 Menschen die Person identifizieren, von der sie verhört worden waren. Mehr als die Hälfte bezichtigte eine falsche Person, sofern die richtige nicht in der Auswahl war.
„Dutzende von Experimenten belegen, wie leicht sich unser Gedächtnis in solchen Situationen täuschen kann“, sagt Ralf Buchstaller von TÜV NORD. Viele Forschende würden deshalb dazu raten, das ‚Metawissen‘ von Augenzeugen zu berücksichtigen: das intuitive Wissen darüber, wie gut man sich erinnert. Dieses Metawissen äußert sich zum Beispiel darin, ob eine Aussage spontan und detailreich oder vage und zögerlich ist. Wer diese metakognitiven Hinweise einbeziehe, so glauben einige Fachleute, könne aus den Angaben von Augenzeugen durchaus verlässliche Schlüsse ziehen.
„Manchmal liegen wir aber auch dann falsch, wenn wir uns ganz sicher sind“, gibt der promovierte Psychologe Ralf Buchstaller zu bedenken. Die Gedächtnisexpertin Loftus beobachtete immer wieder, dass Augenzeugen von ihren Erinnerungen völlig überzeugt waren - und sich dennoch täuschten.
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