In 20 Tagen von Hannover nach Basel
Wie reisten die Menschen vor 150 Jahren von Ort zu Ort? Das beantwortet der Schweizer Historiker Ueli Haefeli, Professor für nachhaltige Mobilität an der Universität Bern, in einem Interview zum Jubiläumsjahr des TÜV NORD. In seiner Habilitation verglich Haefeli Verkehrspolitik und Mobilität in deutschen und Schweizer Städten zwischen 1950 und 1990. Er weiß daher nicht nur Erstaunliches über die Vergangenheit zu berichten, sondern auch über die unterschiedlichen Fahrgewohnheiten in Deutschland und der Schweiz.
TÜV NORD: Herr Professor Haefeli, wenn man vor 150 Jahren von Hannover in die Schweiz reisen wollte, wie hätte man das angestellt?
Prof. Haefeli: In den späten 1860er Jahren gab es zwar schon die Eisenbahn, aber sie fuhr in der Regel nicht schneller als 25 Kilometer pro Stunde. Laut einem Fahrplan von 1870 dauerte die Fahrt von Hannover nach Basel ungefähr 17 Stunden. Nur hätten sich die allermeisten Menschen eine solche Bahnfahrt damals gar nicht leisten können – es hätte sie ein paar Monatslöhne gekostet. Das normale Volk legte auch weitere Strecken zu Fuß zurück und konnte höchstens mal ein Stück auf einem Ochsenfuhrwerk mitfahren. Damit schafft man vielleicht 30 Kilometer am Tag. Vor 150 Jahren wäre man von Hannover nach Basel also ungefähr 20 Tage unterwegs gewesen.
TÜV NORD: Wie hat sich Mobilität seitdem verändert?
Prof. Haefeli: Bis nach dem Ersten Weltkrieg bewegten sich die wohlhabenderen Menschen mit Pferdekutschen fort oder nutzten sie als Zubringer zur Eisenbahn. Auf dem Land hatte man Fuhrwerke mit Kühen oder Ochsen und nutzte sie nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch, um zum nächsten Markt zu kommen. Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Menschen dann zunächst Rad zu fahren und vermehrt Tram und Eisenbahn zu nutzen. Der große Durchbruch fürs Auto kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Interessanterweise waren und sind die Menschen im Schnitt ungefähr eine Stunde am Tag unterwegs – nur legen wir heute in derselben Zeit viel größere Strecken zurück.
TÜV NORD: Was waren die größten Meilensteine in dieser Entwicklung?
Prof. Haefeli: Der erste und meines Erachtens bedeutendste Meilenstein war der Siegeszug der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für damalige Verhältnisse stellte der Schienenverkehr einen Quantensprung dar, denn er verkürzte die Reisedauer enorm. Die nächste große Veränderung kam erst in den 1950er Jahren mit der Motorisierung der Massen durch den Autoverkehr. Und die dritte Umbruchphase begann in den 1970er Jahren: Die Mobilität verlor ihre Unschuld. Die Folgen des Verkehrs für die Umwelt wurden zunehmend erkennbar und trübten die Begeisterung für die wachsende Mobilität. Man erkannte nun: Das Maximum ist nicht das Optimum. Heute bedeutet »optimieren«, den Verkehr zu reduzieren, aber Mobilität zu erhalten – im Sinne vieler verschiedener Optionen. Ein entscheidender Unterschied. Die wichtigste Veränderung ist, dass wir eine immer größere Auswahl haben und immer mehr Kompetenzen brauchen, um unsere Mobilität zu managen und zu optimieren.
TÜV NORD: Haben sich auch die Risiken im Verkehr vermehrt?
Prof. Haefeli: Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Es gibt nicht nur direkte Verkehrsopfer, sondern viel mehr, die indirekt an den Folgen des Verkehrs sterben. Dazu gehören zum Beispiel Herzkreislauferkrankungen, da infolge des Verkehrs Stadtbewohner vermehrt Lärm und schlechter Luft ausgesetzt sind. Zusammen mit den Klimafolgen des Verkehrs kostet das viele Lebensjahre. Betrachtet man aber die direkten Opfer im engeren Sinne, zählte man die meisten Verkehrstoten pro gefahrenen Kilometer in den 1950er Jahren. Damals gab es in den Städten zeitweise keine Geschwindigkeitsbegrenzung, weil man meinte, die Autofahrer wüssten selbst am besten, wie schnell sie vernünftigerweise fahren sollten. Ein Irrtum.
TÜV NORD: Diese Überzeugung ist hier zu Lande immer noch verbreitet, wenn es um ein mögliches Tempolimit auf der Autobahn geht.
Prof. Haefeli: Ein deutsches Phänomen, das man im Ausland mit einiger Verwunderung betrachtet. Dass Tempolimits eine effektive Sicherheitsmaßnahme sind, hat man in der Schweiz und fast allen anderen Ländern längst eingesehen. Es ist erstaunlich, wie viele Verkehrstote noch immer für möglichst unbeschränkte Mobilität akzeptiert werden. Schätzungen zufolge sind weltweit im Straßenverkehr seit 1955 weit mehr Menschen gestorben als im gesamten zweiten Weltkrieg.
TÜV NORD: Beeinflussen die gewählten Verkehrsmittel die Art und Weise, wie wir denken?
Prof. Haefeli: Auf jeden Fall. Beispielsweise fluchen die meisten Autofahrer über Radfahrer, und umgekehrt schimpfen die Radfahrer über Autofahrer. Die Perspektive hängt davon ab, mit welchem Verkehrsmittel man gerade unterwegs ist. Das sollte man schon in den Fahrstunden reflektieren und beide Seiten lehren, Vorsicht und Rücksicht zu üben.
TÜV NORD: Verraten Mobilitätskennzahlen auch etwas über die Lebensqualität einer Gesellschaft?
Prof. Haefeli: Mehr zurückgelegte Kilometer bedeuten nicht automatisch eine vermehrte Lebensqualität. Solche Kennzahlen können aber Auskunft darüber geben, ob Menschen trotz Armut oder Krankheit noch mobil sind. Sie können auch etwas über das Umweltbewusstsein einer Gesellschaft verraten.
TÜV NORD: Lässt sich das am Beispiel von Deutschland und der Schweiz nachvollziehen? Worin unterscheiden sich die beiden Länder?
Prof. Haefeli: In der Schweiz ist der Verkehr in den Städten weniger autolastig, und es ist eher üblich, verschiedene Verkehrsmittel zu kombinieren. Außerdem sind die Schweizer Weltmeister im Bahnfahren: Alle Bevölkerungsschichten fahren längere Strecken mit dem Zug. Man trifft dort selbst hochrangige Politiker, während deutsche Minister eher mit einer privaten Limousine unterwegs sind. Als Vorbild taugen sie allerdings auch nur bedingt: Die Schweizer fliegen im Schnitt 9000 Kilometer pro Jahr mit dem Flugzeug – noch mehr als die Deutschen.
TÜV NORD: Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Welche heutigen Verkehrsprobleme werden in 50 oder 100 Jahren gelöst sein?
Prof. Haefeli: Alles, was mit dem Zeitverlust am Lenkrad zu tun hat. Es wird kein Lenkrad mehr geben, und der CO2-Ausstoß wird deutlich abnehmen. Anstatt Güter von Ort zu Ort zu transportieren, wird man viele Dinge per 3-D-Druck lokal herstellen. Außerdem wird virtuelle Mobilität wichtiger werden, zum Beispiel vielleicht die Kommunikation mittels Hologrammen. Bei solchen neuen Technologien gilt es allerdings stets kritisch zu prüfen, ob sie sich als nachhaltig erweisen. Wir sollten dringend aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
TÜV NORD: Professor Haefeli, vielen Dank für das Gespräch!