Darf man bei Rettungsarbeiten zusehen?

Die Beweggründe von Schaulustigen sind verschieden. Deshalb wollen Fachleute das Zuschauen nicht pauschal verurteilen.

Ein Unfall auf der Autobahn, der Rettungsdienst ist bereits vor Ort. Viele Vorbeifahrende drosseln die Geschwindigkeit, bevor sie die Unfallstelle passieren – eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, wenn die eigene Fahrrichtung betroffen ist. Doch auch auf der Gegenfahrbahn bremsen viele ab: Laut US-Daten verdichtet sich bei mehr als jedem zehnten Unfall auf dem Freeway der Verkehr in der Gegenrichtung. „Stau wegen Gaffern“, heißt das umgangssprachlich in den Verkehrsnachrichten. Hinter dem abwertenden Ausdruck steckt die Annahme, dass die Menschen langsamer fahren, um sich eine Unfallstelle genauer anzusehen und damit ihre Sensationsgier zu befriedigen. Aber manch Fahrende bremsen womöglich vor Schreck oder aus Vorsicht, weil sie fürchten, dass Trümmerteile auf ihre Spur geraten sein könnten.

„Für die Menschen war es seit jeher überlebenswichtig, einem Unglück Aufmerksamkeit zu schenken und zu verstehen, was passiert ist“, erklärt Ralf Buchstaller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Hamburg. „Deshalb schauen wir instinktiv hin, wenn in unserer Nähe ein Unfall passiert.“ Oft bleibt es allerdings nicht bei einem kurzen Blick. An Unfallorten sind Schaulustige leider keine Ausnahme, berichtete die Bundesanstalt für Straßenwesen bereits vor der Jahrtausendwende. 2017 ermittelte die Polizei in Nordrhein-Westfalen nach einem schweren Unfall auf der A3 sogar einmal gegen 92 Schaulustige. Das „Gaffen“ ist eine Ordnungswidrigkeit. Sammeln sich Schaulustige bei einem Unfall und fahren nicht weiter, obwohl die Einsatzkräfte sie mehrfach dazu auffordern wird ein Bußgeld von 20 bis zu 1000 Euro fällig. In manchen Bundesländern wie etwa Niedersachsen können sogar 5000 Euro anfallen. Viele machen sich dabei aber strafbar, indem sie keine Erste Hilfe leisten, Rettungskräfte behindern oder Unfallopfer filmen oder fotografieren. Eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren droht auf das Herstellen einer Aufnahme, die „die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt“ (§ 201a StGB) – selbst wenn die Aufnahme nicht verschickt oder veröffentlicht wurde. Dennoch ist ein solches Verhalten leider weit verbreitet. Es gebe einen starken Drang, traumatische Ereignisse zu dokumentieren und zu teilen, erklären die schwedischen Medienforscher Linus Anderson und Ebba Sundin in einem Artikel, in dem sie das Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Einerseits sei das Filmen oder Fotografieren von Verletzten und Toten noch unethischer als das reine Hinsehen, denn es verletze deren Rechte und mache sie zu Objekten. Andererseits sei das mobile Dokumentieren heute eine Art Kommunikationsform und für viele zur Gewohnheit geworden. Filmende oder fotografierende Schaulustige könnten durchaus zugleich mitfühlen und sich dem digitalen Medienzeitalter entsprechend verhalten.

Noch einen Schritt weiter geht der Pädagoge und Notfallsanitäter Harald Karutz, Professor für Krisenmanagement an der Medical School Hamburg. Er will Zuschauende an Unglücksorten nicht pauschal als „Gaffer“ oder „Schaulustige“ bezeichnen, denn das werde der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. Bei einem Unfall hinzugucken, sei zunächst eine instinktive Orientierungsreaktion. Doch auch wer länger stehen bleibe, könne andere Gründe dafür haben als Sensationslust. Zum Beispiel gäbe es Menschen, die die Rettungsarbeiten aus Mitgefühl verfolgen oder um sich selbst auf diese Weise zu beruhigen. Karutz wirbt deshalb für Verständnis und appelliert an Einsatzkräfte, das reine Zuschauen zu akzeptieren – aber nur, solange gewisse Regeln eingehalten werden. Dazu zählt er: Die Zuschauenden dürfen Einsatzkräfte nicht behindern oder stören, müssen Absperrungen, Anweisungen sowie die Rechte der Opfer respektieren und einen Mindestabstand halten.

Auch bei Ralf Buchstaller von TÜV Nord stößt das Verständnis an Grenzen. „Verkehrssicherheit und Rettungsarbeiten haben immer Priorität“, sagt er. Tote und Verletzte aus der Nähe zu betrachten, hält er für zurecht ordnungswidrig – und die Motive der Schaulustigen dabei für zweitrangig. „Entscheidend ist doch, wie es sich für die Opfer anfühlt, die schlimmsten Momente ihres Lebens zu durchleiden und dabei von Fremden angestarrt zu werden. In dieser Situation muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit zurückstehen.“

 

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