Schaden Navis der Orientierung?

30. Januar 2024 | Mobility: Mit einem Navigationsgerät kommen wir auch in fremder Umgebung schnell zum Ziel. Aber ohne Navi lernen wir mehr.
Damit das Gehirn optimal lernen kann, muss es aktiv arbeiten. Es genügt nicht, blind den Anweisungen zu folgen. Bild: TÜV NORD

Vor 20 Jahren griffen Menschen noch zum Stadtplan, wenn sie sich an einem unbekannten Ort zurechtfinden wollten. Heute weisen Navigationssysteme den Weg. Ob zu Fuß oder auf Rädern: Die Technik sagt, wo es lang geht. Das ist praktisch und funktioniert in der Regel ziemlich zuverlässig. „Es hat aber eine Kehrseite“, sagt Christian Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Köln. „Wir entwickeln keine mentale Karte unserer neuen Umwelt.“

Dass es solche „kognitiven Landkarten“ gibt, entdeckten Forschende erstmals Mitte des 20. Jahrhunderts bei Experimenten mit Ratten: In einem Labyrinth fanden sie auch dann schnell zum Futter, wenn der einzige ihnen bekannte Weg versperrt war. Offenbar hatten sie die Umgebung ebenfalls im Kopf und konnten sich so neue Wege erschließen. Die Tierversuche zeigten, dass solche mentalen Landkarten im Hippocampus und dem benachbarten entorhinalen Kortex gespeichert sind, zwei Strukturen tief im Inneren des Gehirns, die auch an anderen Langzeiterinnerungen beteiligt sind. Es gibt dort sogar spezialisierte Zellen, die einen bestimmten Ort repräsentieren.

Menschen orientieren sich auf ähnliche Weise. Um zu einem Ort zu finden, greifen wir in der Regel auf zwei Strategien zurück, erklärt der Psychologe Christian Müller. Die eine: „Wir merken uns markante Orte und Richtungswechsel ausgehend von der eigenen Position und Perspektive, zum Beispiel: hinterm Rathaus rechts abbiegen.“ Dieses so genannte Routenwissen helfe aber nur, wenn wir auf einer vertrauten Strecke unterwegs sind. Deshalb brauchen wir auf unbekannten Wegen eine andere Strategie: „eine reale oder mentale Karte von den örtlichen Verhältnissen.“

Um eine solche Karte – real oder mental – nutzen zu können, müssen wir die eigene Position und Perspektive mit der Karte abgleichen. Das ist mental anstrengend. Ein Navi nimmt uns diese gedanklichen Operationen ab. So lernen wir nicht, uns selbst zu orientieren, und entwickeln nur rudimentäre Vorstellungen von der Umgebung. „Automatische Wegfindung erodiert unsere natürlichen Fähigkeiten“, warnte Roger McKinley vom britischen Royal Institute of Navigation 2016 im Fachmagazin „Nature“. Wenn man sie nicht nutze, verliere man sie: „Use it or lose it!“

Damit das Gehirn optimal lernen kann, muss es aktiv arbeiten. Es genügt nicht, blind den Anweisungen zu folgen, wie ein Team um den deutschen Psychologen Stefan Münzer feststellte. Die Gruppe stattete junge Erwachsene bei ihrem ersten Besuch im Saarbrücker Zoo mit unterschiedlichen Navigationshilfen aus: entweder einen mobilen Computer mit Navigationsfunktion oder eine einfache Karte. Nach dem Zoobesuch wurden sie überraschend befragt: Wo befand sich was, wo waren sie abgebogen? Jene mit Karte konnten sich im Mittel besser erinnern.

Ein andermal ließen Münzer und sein Team Versuchspersonen über einen Universitätscampus spazieren. Eine Gruppe bekam wiederum ein Navigationsgerät, das den richtigen Weg anzeigte, die anderen nur ein Navi, das ihre Position auf einer Karte zeigte. Auch sie wurden nach dem Campusbesuch mit einem Test überrascht. Wer sich vom Navi leiten ließ, hatte sich zwar seltener verlaufen. Doch wer nur über die Positionsanzeige verfügte, zeichnete danach eine bessere Karte vom Unicampus.

Beim Autofahren ist es nicht anders. Der israelische Verkehrsforscher Eran Ben-Elia stattete seine Versuchspersonen entweder mit einer traditionellen Landkarte oder mit der Google Maps App aus und schickte sie mit dem eigenen Auto zu einem Ziel in einer unbekannten Gegend. Danach sollten sie die Route beschreiben, Richtungen angeben und Landmarken wiedererkennen: In allen Belangen war die Gruppe besser, die sich mit einer Landkarte auf Papier begnügen musste.

„Die Bequemlichkeit kostet nicht nur Orientierung“, sagt der Psychologe Christian Müller von TÜV NORD. „Sich orientieren zu können, gibt auch ein Gefühl von Kompetenz und Autonomie.“ Deshalb lohne es sich, auf die Annehmlichkeit bewusst zu verzichten – zumindest, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Denn beim Autofahren habe das Navi einen Vorteil: „Man hat mehr Kapazitäten frei, um auf den übrigen Verkehr zu achten. Deshalb kann das Navi die sicherere Alternative sein.“  Er empfiehlt aber, sich vorab die Strecke auf einer Karte einzuprägen. So kann man sich im Notfall besser orientieren, kennt alternative Routen oder zumindest die grobe Richtung. Sich nur aufs Navi zu verlassen, ist ohnehin keine gute Idee. »Tod durch GPS« ist inzwischen ein eigenes Forschungsfeld, weil immer wieder Menschen blind ihrem Navi folgen.

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