Lastwagen und Züge, die eigenständig Güter transportieren, ohne dass Menschen sie fahren oder beladen müssen – wie nah ist diese Vision eines autonomen Güterverkehrs auf Straße und Schiene? TÜV NORD hat Kompetenz in beiden Feldern: Katrin Leicht, Projektleiterin autonomes Fahren Automotive, und Dr. Hans Vallée, Eisenbahn-Sachverständiger, sprechen im Interview über Potenziale und Probleme aus der Sicht einer Sachverständigenorganisation, die mit den Beteiligten Wunsch und Wirklichkeit zusammenbringt.
Im Kleinen schon lange möglich: Im Miniatur Wunderland Hamburg bringen Lkws und Züge Tag für Tag ihre Güter sicher ans Ziel – und das ganz ohne „Menschen“ in den Fahrkabinen.
Frau Leicht, Herr Vallée, welche Rolle spielt das autonome Fahren im Güterverkehr auf der Straße und auf der Schiene?
Dr. Hans Vallée: Was die Bahn betrifft, werden die Züge auch auf längere Sicht nicht autonom fahren. Technisch wäre das möglich, keine Frage. Aber es ist im Streckenverkehr nicht mit den Betriebsverfahren des Schienenverkehrs kompatibel.
Was heißt das?
HV: Unter autonom versteht man, dass sich ein Fahrzeug eigenständig seine Route sucht. Vereinfacht gesagt: Dort, wo Platz ist, findet es seinen Weg, zum Beispiel, indem es bei einem Stau auf der Autobahn auf die Bundesstraße ausweicht. Das funktioniert bei der Eisenbahn nicht. Der Bahnverkehr wird zentral organisiert, Züge fahren nach Fahrplänen, sie können nicht einfach auf eine andere Strecke ausweichen, so groß ist das Schienennetz in den meisten Ländern der Welt nicht. Autonomes Fahren in der Bahn ist daher nur an abgeschlossenen Orten vorstellbar. Zum Beispiel in Depots oder Rangierbahnhöfen, wenn es darum geht, autonom Waggons zu sortieren – was mithilfe der digitalen automatischen Kupplungen (DAK) möglich sein wird, auf die die Bahn im Güterverkehr bald umrüsten will.
Frau Leicht, wie ist die Situation beim autonomen Güterverkehr auf der Straße?
Katrin Leicht: Bei der Unterscheidung zwischen autonomem und automatisiertem Verkehr richten wir uns auf der Straße nach den SAE-Autonomie stufen. Komplett autonom unterwegs wäre ein Fahrzeug auf Level 5, hier würde das System vollumfänglich die gesamten Fahraufgaben übernehmen. Diese Stufe bleibt jedoch in der Praxis auch im Güterverkehr auf absehbare Zeit utopisch, denn das hieße, ein Transportfahrzeug müsste sich auf jedem Gelände, bei allen auftretenden Verkehrsszenarien und unter allen möglichen Umgebungsbedingungen zurechtfinden. Und hier stößt die Technik bis auf Weiteres an ihre Grenzen.
„Mein Eindruck ist, dass ein Mensch im Führerstand in Sachen Effizienz bis auf Weiteres unschlagbar ist.“
Dr. Hans Vallée, TÜV NORD Systems
Welche SAE-Stufe findet sich heute in der Praxis wieder?
KL: Level 4 – hier muss das System in einem zuvor definierten Bereich ohne Fahrpersonal zurechtkommen. Wir als TÜV NORD überprüfen in zwei Schritten, ob das Fahrzeug die für eine Level-4-Automatisierung nötigen Eigenschaften besitzt und ob sich das Fahrzeug auf dieser vorgesehenen Strecke tatsächlich eigenständig bewegen kann.
Es gibt weiterhin technische Herausforderungen, vor allem beim Herzstück autonom fahrender Systeme: der korrekten Erkennung von relevanten Objekten und Situationen im Umfeld sowie der passenden Reaktion darauf. Um ein Beispiel aus unseren Prüfungen zu nennen: Ein großer Löwenzahn, der am Straßenrand wächst, wird möglicherweise vom System als potenzielles Hindernis erkannt, woraufhin es das Fahrzeug zum Halten bringt. Hinzu kommt, dass die Netzabdeckung sowohl mit GPS als auch mit dem Mobilfunkstandard 5G noch längst nicht optimal ist. Eine flächendeckend zuverlässige Genauigkeit bei der Lokalisierung wäre jedoch erforderlich.
Welche Einsatzmöglichkeiten sehen Sie im Güterverkehr für Fahrzeuge auf der Straße oder der Schiene, die vollautomatisiert oder eines Tages sogar autonom unterwegs sind?
KL: Ein Thema mit Potenzial ist das Platooning, also das gemeinsame Fahren mehrerer miteinander vernetzter Fahrzeuge in geringen Abständen. Allerdings müssen hier ebenfalls noch viele Fragen geklärt werden.
HV: Platooning eröffnet die Möglichkeit, dass Logistikunternehmen bestimmte Zeitkorridore auf festgelegten Routen reservieren, zum Beispiel: Immer donnerstagnachts fährt zu einer festen Uhrzeit eine Lkw-Kolonne mit Leitfahrzeug und automatisierten Folgefahrzeugen von Hamburg nach Berlin.
Es gäbe für diese Lkw-Züge also einen Fahrplan, wie bei der Bahn.
HV: Genau. Was Sie auf bestimmten Autobahnen schon heute sehen können: Es werden erste Oberleitungen für den Fernverkehr gebaut, über die große Lkws vollelektrisch unterwegs sein können. Auch hier ähnelt das Prinzip dem Schienenverkehr: Die Lkws werden zu Beginn ihrer Autobahnfahrt rangiert, ihr einzig möglicher Weg führt entlang der Oberleitungstrasse. Mit Blick auf diese Ideen ergibt sich jedoch die Frage, wie die Fahrspuren auf den Autobahnen aussehen, wenn dort mehrere Jahre lang spurgenau Kolonnen schwerer Lastkraftwagen fahren.
Wäre ein vollautomatisierter Güterverkehr überhaupt effizient gestaltbar?
HV: Was Züge betrifft eine berechtigte Frage. Die Bahn ist ein Massenverkehrsmittel, ein Güterzug zieht Dutzende Waggons. Ist in diesem Prozess die Person, die die Lok führt, wirklich ein so großer Kostenfaktor, dass man sie durch die Einführung einer komplexen und teuren Technik ersetzen muss? Mein Eindruck ist, dass ein Mensch im Führerstand in Sachen Effizienz bis auf Weiteres unschlagbar ist.
Frau Leicht, sind Berufskraftfahrer:innen im Straßenverkehr auch unschlagbar?
KL: Um sie zu ersetzen, brauchen wir ebenfalls eine komplexe und teure Technik. Und Menschen werden auch dann weiterhin gebraucht, weil es Leitzentralen geben muss, in denen Mitarbeitende die Gütertransporte kontrollieren. Der Vorteil ist jedoch, dass diese Jobs für die meisten sozialverträglicher sind als der Beruf der Fernfahrenden, die im Lkw tausende Kilometer auf der Autobahn abspulen. Man sollte diesen Faktor nicht unterschätzen, wenn man sich anschaut, wie groß der Mangel an Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern schon heute ist.
Von der Autobahn in die Städte, die stark vom Lieferverkehr belastet sind. Können hier automatisierte oder autonome Transporte helfen, wie sie im Personenverkehr im Fall von Peoplemovern bereits zu finden sind?
KL: Zunächst einmal hat Güterverkehr im Vergleich zum Personenverkehr einen Vorteil: Es gibt hier keine Passagiere an Bord, um die man sich kümmern und die man im Blick haben muss, es gibt auch keine Reihe von Haltestellen mit Ein- und Ausstiegen. Städte und Hersteller testen in Pilotprojekten Einsatzmöglichkeiten für autonom fahrende Peoplemover, und ich denke, man sollte tatsächlich verstärkt darüber nachdenken, wie man diese Fahrzeuge auch für den Gütertransport nutzen könnte.
HV: Wobei solche „Gütermover“ wiederum den Nachteil besitzen, dass sich die Ladung im Gegensatz zu menschlichen Passagieren nicht selbstständig ins Fahrzeug ein- und auslädt. Entsprechend muss es Systeme geben, die die Abfahr- und die Empfangskriterien des automatisierten Liefertransports regeln. Hier gibt es jedoch bislang nur wenige Entwicklungen. Für das Gelingen des automatisierten Fahrens selbst wird viel getan, doch ist die Wegstrecke im Lieferverkehr maximal die halbe Miete. Was vorher und nachher mit den Gütern passiert, ist mindestens genauso wichtig.
Frau Leicht, Herr Vallée, gibt es bei Ihrer jeweiligen Arbeit Synergieeffekte innerhalb der TÜV NORD GROUP?
KL: Ja, hier tut sich seit einigen Jahren sehr viel. So stehe ich zum Beispiel mit einigen Gesellschaften in Kontakt, wie etwa TÜVIT. Wir informieren uns über Forschungsprojekte, begegnen uns auf Tagungen, tauschen Wissen aus, wobei auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Schiene dabei sind, sodass wir hier von starken Synergieeffekten profitieren. Parallel dazu setzen wir natürlich auch im eigenen Geschäftsbereich auf eine starke Vernetzung wie z. B. bei Software-Updates und Cybersecurity.
HV: Die Anbindung an TÜVIT ist deshalb zentral, weil die Themen Software und Security zentral sind. Die Herausforderung wird sein, die Kommunikationskanäle zwischen Fahrzeugen oder zwischen Fahrzeug und Leitstelle abzusichern. Damit sich niemand zu Hause ins System hackt und für Chaos oder Unfälle sorgt.
Welche Rolle spielt TÜV NORD bei den Schritten in Richtung Vollautomatisierung und autonomes Fahren auf Schiene und Straße?
HV: Bei der Bahn ist es so, dass wir als TÜV NORD schauen, was unsere Kunden in diesem Themenbereich realisieren wollen, und wir dann die Frage klären: Ist die Entwicklung in Bereichen wie Security und Betrieb sicher genug – oder gibt es Bereiche, wo der Kunde noch mal genauer hinschauen muss?
KL: Im Bereich Straße sind wir weniger Treiber als Begleiter der Entwicklung. Wir verstehen uns als eine Institution, die objektiv auf dieses Thema schaut. Wir werden häufig mit Zukunftsszenarien konfrontiert, die einen schnellen Fortschritt prognostizieren. Unsere Rolle ist es, realistisch zu bleiben und die noch zu schließenden Lücken zu identifizieren. Geeignete Prüfverfahren müssen vor der Markteinführung solcher Systeme eine ausreichende Sicherheit nachweisen. Die Strecken, auf denen sich automatisierte Fahrzeuge bewegen, müssen zum Fahrzeug und seinen autonomen Fähigkeiten passen. Und da kommt TÜV NORD ins Spiel: Die Medien spielen mit dem schnellen Fortschritt, wir wollen diesen Fortschritt nicht ausbremsen, sondern sicher machen. Die Sache ist so komplex, dass es sich empfiehlt, Schritt für Schritt vorzugehen.